Fahrt als Betreuer nach Amrum im Oktober 2002
Zwischen Niemandsland und Paradies
oder
So glücklich macht Amrum!
... ob ich generell Interesse habe und mir vorstellen könnte, bei Patienten Nachtwachen als Entlastung der Familie zu übernehmen... Klar, dachte ich, wieso nicht. Man kann ja von Einzelfall von Einzelfall entscheiden, ob das eine Arbeit ist, die man machen kann und möchte...
Aber vielleicht stelle ich mich erst einmal vor: Mein Name ist Marco Scholz, ich bin 32 Jahre und angehender Berufsschullehrer. Nein, mit Patientenpflege hatte ich nie zu tun. Überhaupt: wenn man es genau nimmt, so ist das Thema "Krankenhaus" und "Krankheit" nicht wirklich ein Thema, dem ich mich gewachsen fühlte.
Durch ehrenamtliche Arbeit im Hospiz Luise in Hannover (dort jedoch mehr für technische Belange, Computer, die Homepage, etc. zuständig) kam dieser Kontakt zu Stande.
Eine Nachtwache habe ich bis jetzt noch nie übernommen. Bislang war auch kein Bedarf. Aber die jetzige Anfrage ging weit (im wahrsten Sinne des Wortes) darüber hinaus: Eine Woche Amrum mit einem Patienten und einer Krankenschwester, zusammen in einem Hotel. Meine Aufgabe sollte die Entlastung der Krankenschwester sein.
Huh, DAS war doch mal eine Herausforderung. Ich einigte mich darauf, dass es erst einmal zu einem Treffen zum Beschnuppern kommen sollte. Also trafen wir uns bei Peter, dem besagten Patienten. Ich wusste ja nun gar nicht, was mich erwartet, war aber total überrascht, wie locker das erste Treffen war.
Nina, die Krankenschwester öffnete mir die Tür bei Peter, der alleine wohnt. Nun fing das Beschnuppern an: Nina erzählte von sich und von Peter (Peter kann leider wegen eines Schlaganfalls kaum sprechen) und ich fragte viel nach. Wollte ja schon möglichst genau erfahren, was mich auf Amrum erwarten würde.
Peter lauschte die ganze Zeit aufmerksam unserem Gespräch, unterbrach uns manchmal mit lauten Lachen, lauter Zustimmung oder Ablehnung. Es ging sehr schnell, der Knoten war geplatzt, wir verstanden uns von Anfang an gut und so stand fest: Wir drei fahren bald zusammen in den Urlaub.
Als die nun lange geplante Reise endgültig feststand, blühte Peter förmlich auf. Er war vor vielen Jahren oft mit seinem Freund auf Amrum, konnte aber aufgrund seiner Erkrankung nur noch mit Hilfe einer Krankenschwester und einer dritten Person verreisen. Und diese dritte Person war ich. Vorher hatte sich niemand gefunden.
Aber wovon soll diese Geschichte eigentlich erzählen? Von der Faszination, die solch intensive Zwischenmenschlichkeit ausüben kann? Von der Dankbarkeit, die Peter uns in dieser Zeit immer und immer wieder deutlich auf seine Art und Weise zeigte? Von Feingefühl, das uns oft im Umgang mit Behinderten oder Schwerkranken fehlt? Von Bedürfnissen, die vielleicht klein aber wichtig sind? Oder einfach von der Freude am Leben? Hm, ich glaube: von allem ein wenig.
Nun sollte es also losgehen: der PKW vor Peters Tür war schon voll bepackt mit Rollstuhl, Rollator, Reisetaschen, Medikamenten, Kochsalzlösung, und allem, was man eben braucht, wenn man in den Urlaub fährt.
Nach einer langen Autofahrt erreichten wir den Fährhafen. Die frische Seeluft wehte uns um die Nase und Peter saß in seinem Rollstuhl und war einfach nur am Genießen. Die Luft, die Sonne, die Weite des Meeres, die Freiheit, einfach mal die eigenen vier Wände zu verlassen.
Aber was war nun meine Aufgabe auf dieser Fahrt? Immer wieder merkte ich, dass ich sehr angespannt war: Geht es Peter gut, braucht er etwas, braucht er etwas Hilfe, muss ich jetzt irgendetwas tun, oder was? Natürlich versorgt einen diese dauernde Anspannung mit Unsicherheit. Aber ich habe gemerkt, dass vieles sich einfach durch "fragen" klären lässt. Auch wenn Peter eine Behinderung besitzt, viel auf seinen Rollstuhl, mindestens auf seinen Rollator angewiesen ist, kaum sprechen kann, so hat er immer noch einen starken Willen, Bedürfnisse und möchte Dinge entscheiden.
Selbständig!
Und das war es auch, worum es auf dieser Fahrt ging: Peter bei den Dingen helfen, bei denen er nicht mehr so selbständig ist. So waren wir sehr viel am Strand, einfach am Wandern, haben immer gut gegessen, sind Schwimmen gewesen, haben die leckersten Krabbenbrötchen gegessen, waren im Watt-Museum, auf einer Tanzveranstaltung, Kaffee trinken, Eis essen, etc. etc. Mit anderen Worten: Wir drei hatten einfach eine gute Zeit zusammen.
Ich glaube, es gab bisher keinen Urlaub, in dem so viel gelacht wurde, wie auf Amrum. Peter hat uns immer wieder mit kleinen Gesten, Handbewegungen oder einfach Blicken und Gesichtsausdrücken zu verstehen gegeben, wie er über dies oder jenes denkt, wen er hübsch oder hässlich findet, was ihm schmeckt oder nicht, was er möchte und was nicht.
Nach dieser Woche, die mehr war als ein Urlaub, war ich voller Eindrücke. Das musste erst einmal verdaut werden. Und anstrengend war es auch, das ist klar, da man irgendwie immer "unter Strom" steht, um für den anderen da zu sein.
Aber eins steht fest: Hätte ich noch einmal die Chance, ich würde immer wieder fahren. Und ich würde jedem empfehlen, zu versuchen, die Welt mal mit den Augen eines Hilfebedürftigen zu betrachten: Viele Dinge werden unwichtiger, andere wiederum werden wichtiger.
Die Fahrt war unterm Strich für uns alle ein Gewinn: Für Peter, der so die Möglichkeit hatte, seine vier Wände zu verlassen, für Nina, weil es eine andere Form der gewohnten Betreuung war und für mich, weil ich gelernt habe, wie glücklich Peter jeden Morgen aufs Neue die erste Tasse Kaffee macht, die er mit Blick aufs Meer trinkt...
Marco Scholz
ehrenamtlicher Mitarbeiter im Hospiz Luise, Hannover